6.4.07

Dokumentarfilm über Kurt Gerstein

Das Leben von Kurt Gerstein nahm wie das vieler Deutscher in der NS-Zeit eine schicksalhafte Wende. In die Geschichte ging er durch den ''Gerstein-Bericht'' ein, den er 1945 in französischer Gefangenschaft verfasste. Darin offenbarte er die Existenz der Vernichtungslager. Bereits zwei Jahre zuvor hatte er der Widerstandsbewegung und den Alliierten Augenzeugeninformationen über das entsetzliche Geschehen im KZ Belzec zukommen lassen, in dem er selber tätig gewesen war.
Aber Gerstein, der die SS von innen unterwandern wollte, wurde Opfer seiner eigenen Strategie. Nach dem Krieg schenkte man ihm keinen Glauben. Aufgrund der Rechnungen, die ihn als Käufer von Zyklon B auswiesen, wurde er sogar für einen aktiven Vollstrecker der Vernichtung gehalten. Seine scharfsinnige Taktik blieb damals unverstanden. Wer sollte und konnte einem Mann in SS-Uniform trauen?
Kurt Gerstein hat leidenschaftliche Diskussionen ausgelöst: Zuerst galt er als Monstrum, dann als Held des Widerstands. Rolf Hochhuth verwendete Gerstein als Vorlage für eine Figur seines Theaterstücks ''Der Stellvertreter'' (1963). Damit lenkte er zwar Aufmerksamkeit auf den Fall, gab die biografischen Fakten aber nicht richtig wieder. Tatsächlich war Gersteins Leben sehr viel komplexer als all die Legenden, die sich um seine Geschichte ranken.

Handschrift Kurt Gersteins


Sein bewegendes Schicksal ist vom großen humanistischen Erbe ebenso wie von der preußisch-lutherischen Tradition Deutschlands geprägt. Doch existierten Voraussetzungen in Deutschland, die die grauenvollen Taten der Nazis möglich, aber nicht unvermeidbar machten. An der tiefen Ambivalenz, die mit diesem Erbe verbunden war, sollte Gerstein schließlich zerbrechen. Nach der Gefangennahme wurde er in seiner Zelle in Paris erhängt aufgefunden. Bis heute ist nicht geklärt, ob es Selbstmord war, oder ob er ermordet wurde. So wirft das Ende seines kurzen Lebens eine letzte, vermutlich nie zu lösende Frage auf.

Interview mit Bernd Hey
Seit 1985 leitet Professor Dr. Bernd Hey das Landeskirchliche Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen. Als Archivar und Historiker hat er wesentlich dazu beigetragen, Kurt Gersteins Denken und Handeln einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.

Prof. Dr. Bernd Hey, Landeskirchliches Archiv Bielefeld

? Kurt Gerstein, überzeugter Christ und SS Mitglied zugleich, berichtete im so genannten "Gerstein-Bericht" von den entsetzlichen Verhältnissen im KZ Belzec. Was macht das Besondere seines Berichts aus im Vergleich zu anderen Berichten aus dieser Zeit?

Der Gerstein-Bericht ist das einzigartige Dokument eines Augenzeugenberichts über Massentötungen jüdischer Deportierter in Belzec und Treblinka mit Autoabgasen bzw. Zyklon B, geschrieben aus der Perspektive eines SS-Offiziers, der die Uniform der Mörder trug, aber gleichzeitig das ganze Entsetzen des Geschehens aus der Sicht eines mitleidenden Christen artikulierte. Gerstein war weder überlebendes Opfer noch Täter. Das unterscheidet seinen Bericht von allen anderen. Die Anschaulichkeit und Ausdrucksfähigkeit seiner Sprache, die noch heute die aufgewühlten Gefühle des Miterlebenden wiedergibt, packt jeden, der den Bericht liest.

? Wann verfasste Gerstein seinen Bericht?
Kurt Gerstein verfasste ihn in französischer Internierung in Rottweil im April/Mai 1945. Er beschrieb darin seine Erlebnisse in den Vernichtungslagern Belzec und Treblinka im August 1942. Dieser Bericht ist in mehreren Fassungen erhalten, die sich z.T. in den National Archives in Washington, z.T. im Landeskirchlichen Archiv Bielefeld befinden.

? Und welche Fassung besitzt Ihr Archiv?
Das Bielefelder Archiv besitzt die deutsche maschinenschriftliche Fassung vom 4. Mai 1945, mit handschriftlichen Zusätzen, und drei Teile einer handschriftlichen französischen Fassung vom 26. April bzw. 6. Mai 1945. Es gibt aber noch einen früheren Bericht über Gersteins Erlebnisse in den Vernichtungslagern. Er ist in holländischer Sprache und wurde im Jahre 1943 verfasst. Er wurde über einen niederländischen Studienfreund Kurt Gersteins und dessen Verbindungen zum holländischen Widerstand an die niederländische Exilregierung in London gefunkt. Das Original befindet sich heute in dem Erinnerungszentrum Kamp Westerbork/NL; das Landeskirchliche Archiv Bielefeld besitzt aber ein Faksimile.

? Wie wird Kurt Gerstein heute angesehen?
Gerstein zeigt viele Gesichter, damals zu Lebzeiten wie heute: ein schwieriges Kind in der Familie, ein aufmüpfiger Schüler, ein nonkonformer Student, aber auch ein charismatischer Jugendführer und mutiger Rebell gegen die kirchliche Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten. Entscheidend war für ihn ein tief empfundenes Erweckungserlebnis zum christlichen Glauben und eine enge Bindung an seinen persönlich erlebten und erfahrenen Gott. Gerstein fühlte sich von Gott geführt und berufen, Zeugnis von den Verbrechen der Nationalsozi- listen abzulegen, die Öffentlichkeit zu informieren und zum Widerstand aufzurufen. Dazu tarnte er sich als SS-Offizier und machte Karriere, nutzte aber gleichzeitig seine Möglichkeiten als „Spion Gottes“ zur Weitergabe von Informationen und Sabotage von Giftgaslieferungen.

? Was halten Sie von Gersteins medialer Präsenz?
War es zu Lebzeiten sein persönliches Charisma, so fesselt heute seine mediale Präsenz. Er begegnet uns nicht nur in seinen eigenen Briefen und Schriften, sondern auch in den Erinnerungen seiner Zeitgenossen und Freunde, in den drei wissenschaftlichen Biographien, in Rolf Hochhuths berühmten Schauspiel „Der Stellvertreter“ (1963) und dem gleichnamigen Spielfilm Costa-Gavras´ (2002), in der Ausstellung „Kurt Gerstein – Widerstand in SS-Uniform“ des Landeskirchlichen Archivs Bielefeld mit Begleitheft (2000) und in Radio- und Fernsehsendungen. Der Film von ARTE „Kurt Gerstein – Zeuge der Wahrheit“ ist dabei ein vorläufig letzter, aber sehr wichtiger Beitrag zur Erschließung der Persönlichkeit Kurt Gersteins, aber auch zu seiner öffentlichen Anerkennung als Widerstandskämpfer aus christlichem Glauben.

Das Interview führte Perrine Häfner (ARTE)

Info:
Kurt Gerstein - Zeuge der Wahrheit Dokumentarfilm Frankreich 2007, 75 min.Regie: Philippe Labrune
Sendetermin: Karfreitag, 6. April 2007, 22.15 Uhr - 23.30 Uhr, ARTE (Erstausstrahlung)

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