20.6.07

Von Wiernsheim in den Wilden Westen: Auswanderer-Briefe im Gemeindearchiv entdeckt

ENZKREIS. Schätze und „Schätzle“ werden bei der Arbeit in den Gemeindearchiven des Enzkreises immer wieder gehoben. So ein Schätzle, direkt aus der Prärie Nordamerikas, fiel nun Heike Sartorius vom Kreisarchiv des Enzkreises in die Hände, als sie das Wiernsheimer Gemeindearchiv bearbeitete: Ein Brief des Auswanderers Friedrich Bihler an seine „Dote“, also seine Patentante in Wiernsheim, versetzt die Leser in die Zeit um 1900 und in die Haut eines jungen, nach Nordamerika ausgewanderten Burschen. Er berichtet über seine Stationen in der „Neuen Welt“, von New York und Brooklyn, „die bloß zum Verderben der jungen Menschen sind“, von gefährlicher und gesundheitsschädlicher Arbeit und vom Leben in der Prärie Montanas.

Anders als es uns die Western weismachen wollen, war die Arbeit, wilde Pferde für das Reiten und Fahren zu zähmen, einsam, hart und eben auch gefährlich. Das berühmte Feuerwasser war offensichtlich auch nicht überall erhältlich, erfährt man doch: „Es giebt hier nichts zu trinken als nur Wasser.“ Bedauernd schrieb Bihler: „Ich wünsche manchmal, ich wäre in Wiernsheim und könnte den guten Most einmal wieder versuchen.“

Sein Wunsch, einmal in Montana seine „Heimat [...] zwischen den schönen Bergen wo das ganze Jahr mit Schnee bedeckt sind“ zu finden, hat sich vermutlich nicht erfüllt. Vielleicht hat ihn seine Abenteuerlust weitergetrieben, vielleicht haben ihn Arbeit oder die Einsamkeit doch zum Wegziehen veranlasst. Jedenfalls erfährt man aus einer Abschrift eines Schreibens aus der Feder seines Vetters Leonhard von 1912, dass es Friedrich Bihler „in Mexiko und Kalifornien nicht lange gefallen hat“. Leonhard [vermutlich Wilßer] bat um eine Fotografie, womit er sich der Identität seines Cousins versichern wollte, der sein Vermögen aus Deutschland eingefordert hatte.

Leider wissen wir nichts Weiteres vom Schicksal des Abenteurers, doch geben uns allein diese beiden Schreiben interessante Einblicke: In die Welt eines aus der Heimat auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen oder aus purer Abenteuerlust nach Nordamerika Aufgebrochenen.

Heike Sartorius sichtet, ordnet und verzeichnet den reichhaltigen Archivbestand des Ortes Wiernsheim, für den dann in den nächsten Monaten ein Findbuch erstellt wird. „Damit werden Verwaltung, Heimatforscher und ortsgeschichtlich Interessierte ein gut nutzbares Verzeichnis über den Archivbestand zur Verfügung haben“, sagt die Archivarin vom Landratsamt.

Die Bestände der ehemals selbstständigen Orte Iptingen und Serres wurden ebenfalls durch das Kreisarchiv, in diesem Fall von Dr. Karl Mayer aufgearbeitet. Das Archiv des Ortes Pinache hat bereits vor Jahren Ulrike Stahlfeld in Zusammenarbeit mit dem Kreisarchiv erschlossen. Das gesamte Archiv der Gemeinde Wiernsheim wird somit voraussichtlich ab der zweiten Jahreshälfte der ortsgeschichtlichen Nutzung offenstehen.

Abschrift des Briefes von Friedrich Bihler (aus dem Gemeindearchiv Wiernsheim, VNr. 911):

Liebe Dote!

Nach langen 8 Jahren ohne etwas von Deutschland zu hören will ich die Feder ergreifen u[nd] Dir schreiben wie es mir ergeht. Ich bin seit 2 Jahren im Staat Montana 2500 Meilen west von New York. Ich arbeite auf einer Vieh- und Pferdezüchterei. Vieh, Pferde und Schafzucht ist das Hauptgewerbe hier. Es ist hier nicht sehr besiedelt aber es ist eine gute Gegend, alles Prärie und gutes Futter.

Ich habe in einer Silberschmelzerei geschafft für 6 Monate lang befor ich hier her gekommen bin, aber es war sehr ungesunde Arbeit und der Docktor sagte mir meine Lunge wäre angepackt davon und ich solle in eine hochgelegene Gegend gehen wo die Luft gut und rein ist. Seit ich hier bin, bin ich so gesund wie jemals, bloß bin ich im August und September im Spital gelegen, ich habe die linke Schulter auseinandergefallen. Ich habe ein noch halbwildes Pferd in die Stadt geritten und es ist scheu geworden an der Eisenbahn und ist mit mir einen Abhang hinuntergestürzt. Ich bin jetzt gottlob wieder vollständig hergestellt. Es sind hier 4 Mann das ganze Jahr beschäftigt wo nichts andres thun als wie Pferde gewöhnen zum reiten und Fahren. Das ist alles was ich zu thun habe. Es ist ganz schöne Arbeit, aber manchmal auch gefährlich. Die Pferde werden alle wild geboren und laufen wild auf der Prärie bis sie 4 Jahr alt sind, dann werden sie eingefangen zum gewöhnen, dann kannst Du Dir vorstellen, wie sie wild sind. Aber wir bekommen guten Lohn. Mein Herr ist ein Amerikaner, er hat 500 Pferde und über 3000 Stück Rindvieh. Das Vieh lauft alles wild auf der Prärie den ganzen Sommer über, im Herbst wird es zusammengesucht, das junge Vieh wird Winters in schlechtem Wetter Heu gefüttert, aber das alte Vieh ist draußen in der Wildnis den ganzen Winter über. In kalten Wintern kommt aber auch manchmal viel Vieh um durch Wölfe. Wir haben 50 Meilen (3 Meilen ist eine Stunde) zum nächsten Dorfe und 80 Meilen zur Eisenbahn. Es ist manchmal ganz einsam hier Sonntags. Es giebt hier nichts zu trinken als wie Wasser. Obst wächst hier nicht. Ich wünsche manchmal ich wäre in Wiernsheim und könnte den guten Most einmal wieder versuchen. Liebe Dote ich wünsche ich wäre gleich hieraus gekommen wenn ich nach Amerika gekommen bin, ich wäre niemals so liederlich geworden wenn ich Broklyn und New York niemals gesehen hätte. Solche Städte sind bloß zum Verderben für einen jungen Menschen, überhaupt wenn einer noch ziemlich leichtsinnig ist wie ich. Liebe Dote, bitte mache mir keine Vorwürfe nach so langen Jahren mehr, denn ich bin zur Vernunft gekommen und meine wilden Jahre die sind vorüber. Wenn ein junger Mensch ganz allein in der Welt da steht, da muß er manchmal harte Erfahrungen machen. Seit ich von dem Spital entlaßen wurden habe ich mir fest vorgenommen mein Leben wird und muß ein andres werden von jetzt an.

Liebe Dote, im nächsten Briefe werde ich Dir etwas Geld schicken, hoffentlich bist Du gesund. Wie geht und steht denn auch alles in Wiernsheim. In 10 Jahren da kann sich viel ereignen. Von meinen Schulkameraden da werden wohl die mehrsten verheiratet sein. Bitte schreibe mir alles. Wie geht es denn auch dem Fr. Hofmeister und dem Fr. Schöttinger. Sind sie noch beide in Wiernsheim. Was macht denn auch der Karl, Bertha und Otto Schroth. Eines habe ich mir fest vorgenommen, ich werde mich niemals wieder in einer Statd [sic!] niederlaßen. Wenn ich Glück habe, werde ich mir hier einmal meine Heimat machen zwischen den schönen Bergen wo das ganze Jahr mit Schnee bedeckt sind. Ich bin nicht geboren zum Statdleben [sic!]. Vielleicht sehe ich Dich wieder in ein paar Jahren wenn uns das Leben erhalten bleibt. Bitte schreibe mir einen langen Brief wie es Dir hauptsächlich geht und alles neue von Wiernsheim und Umgegend. Liebe Dote, ich will alles wieder gut machen was ich versäumt habe soviel es in meinen Kräften steht.

Herzliche Grüße an alle Freunde und Bekannte, insbesondere an Vetter L.Wilßer und Familie, an Vetter Felixens, an Dengler Base und Charlotte, an Vetter Schroths, an Maria und an Friedrich Laub welcher jetzt ein großer Bub sein wird und ich denke es war erst gestern wo er noch in der Wiege lag.

Es grüßt Dich herzlich
Friedrich Bihler
Billings P.O.
Montana
N.Amerika
Schreibe bald und viel.«

Kontakt:
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Quelle: Enzkreis, Pressemitteilung,144/2007, 19.6.2007

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