Historische Bildungsarbeit – Öffentlichkeitsarbeit. Eine theoretische Annäherung
Das Letzte, was einen Archivpädagogen an der Bildungsarbeit interessiert, ist die Theorie. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn schließlich zeichnen sich ja gerade die Archivpädagogen und jene Archivmitarbeiter, die mit der Archivpädagogik, mit der Historischen Bildungsarbeit und Öffentlichkeitsarbeit befasst sind, durch ihre praktischen Veranlagungen, durch ihr Organisationstalent, ihre Kreativität und ihre Vermittlungskompetenz besonders aus. (Ich hoffe, dass ich durch diese positiven Zuschreibungen noch mal die Kurve gekriegt habe angesichts meines ein wenig indignierenden Einleitungssatzes, übrigens ein abgewandeltes Zitat des amerikanischen Sexualforschers Kinsey, der dies auf Frauen und die Liebe bezog). Zudem bin ich ja gerade von Archivpädagogen eingeladen worden, hier eine theoretische Annäherung an die Historische Bildungsarbeit und Öffentlichkeitsarbeit, halt: an die Historische Bildungsarbeit Spiegelstrich Öffentlichkeitsarbeit zu wagen. Ich danke für diese undankbare Aufgabe, zwischen einer szenischen und einer praktischen Annäherung an die Bildungsarbeit nun die „dröge“ Theorie verbreiten zu dürfen. Nehmen Sie mich also am besten als unumgängliche Brücke zwischen den blühenden Ufern der Praxis!
Nun zur Sache: Ich habe über ein Thema zu berichten, das eigentlich aus mindestens zwei Bereichen besteht. „Mindestens“ sage ich, weil neben der Historischen Bildungsarbeit und der Öffentlichkeitsarbeit natürlich auch die Archivpädagogik ein originärer Aspekt des abzusteckenden und zu verortenden Tätigkeitsfeldes ist. Diese babylonische Begriffsvielfalt hat, wie sollte es anders sein, historische Ursachen. Sie liegt in der Genese einer Disziplin begründet, die seit Jahrzehnten um Akzeptanz innerhalb der Archivszene und der archivarischen Ausbildung ringt. Ich kann nicht sehen, dass Historische Bildungsarbeit und Öffentlichkeitsarbeit, dass Archivpädagogik oder auch Archivmarketing – ich spreche summarisch ganz gern von „Historischer Kommunikation“ – heute bereits adäquat etablierte Aufgabenbereiche im Kanon der archivischen Praxis wären. Erfreulich ist immerhin, dass die Historische Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit im Rahmen von Weiterbildungsveranstaltungen für Archivare und andere Kulturarbeiter eine gewisse Tradition aufweisen kann, dass es sie auch schon als eigenes Referat innerhalb von Landesarchivverwaltungen gibt, so in Baden-Württemberg, und dass sie jetzt auch mit Frau Prof. Susanne Freund als Lehrgebiet an der Fachhochschule Potsdam verankert ist. Herkömmlich aber hat sich die Historische Bildungsarbeit als Resultat eines Außen- und Binnendruckes in verschiedenen Nischen der archivischen Landschaft eingenistet, dabei Freiräume erkannt und genutzt („Spielwiesen“ hat Clemens Rehm das einst genannt). Nachdem die Geschichtswissenschaften seit den achtziger Jahren durch diverse kultur- und alltagsgeschichtliche Erweiterungen allmählich wieder Boden gegenüber den Sozialwissenschaften zur Erklärung der Welt gut machen konnte, eröffnete sich auch ein Arbeitsfeld für Historische Bildungsarbeit, die sich im Konkreten durch die Arbeit mit und in Archiven nähren konnte. Historische Bildungsarbeit der Archive geschieht dabei traditionell adressatenorientiert, in Gestalt der Archivpädagogik speziell in Zusammenarbeit mit Schulen, Schülern und Lehrern als ausgewählter Öffentlichkeit. Man könnte Historische Bildungsarbeit und Öffentlichkeitsarbeit so zuordnen, dass das eine als Unterabteilung des anderen zu behandeln wäre. Das ist aber nicht mein Verständnis beider Aufgabenfelder. Im Archivwesen ist Historische Bildungsarbeit Öffentlichkeitsarbeit mit pädagogischen, didaktischen und historisch-kritischen Mitteln. Und Öffentlichkeitsarbeit ist Historische Bildungsarbeit mit journalistischen und Marketing-Instrumenten.
Dass ein Deutscher Archivtag sich dem Rahmenthema „Archive und Öffentlichkeit“ widmet, ist dabei nichts Neues. Denn bekanntlich lautete bereits das Thema des 45. Deutschen Archivtags in Kiel 1969 „Archivische Öffentlichkeitsarbeit“. Und führt man sich in diesem Zusammenhang noch einmal Hans Booms’ damaligen Vortrag über Voraussetzungen und Möglichkeiten einer Öffentlichkeitsarbeit der Archive vor Augen, so kommt seinen Aussagen eine geradezu erschreckende Aktualität zu und man muss besorgt fragen, ob wir eigentlich gar nicht vorangekommen sind in all den Jahren: Bereits Booms konnte einen gewissen Trend zur Implementierung von PR und Öffentlichkeitsarbeit in öffentlichen Verwaltungen feststellen, bemerkte das Imageproblem der Archive und die notwendige Erweiterung des archivarischen Berufsbildes; er nahm definitorische Unterscheidungen zwischen archivischer Selbstdarstellung und öffentlicher Bildungsarbeit vor und sprach nicht nur vom historischen Datenspeicher Archiv, sondern vor allem von der Verpflichtung der Archivare, sich im Kontext der „Freedom of Information“ an der Bildung der demokratisch strukturierten Öffentlichkeit zur politischen Mündigkeit zu beteiligen. Die Passage aus Willy Brandts erster Regierungserklärung, die fünf Wochen nach dem Kieler Archivtag gehalten wurde – „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ – könnte auch von Hans Booms stammen, und eigentlich reicht es aus, sich seinen Vortrag jeden Morgen vor Augen zu führen, um engagiert das eigene Tagewerk zu beginnen.
Was ist also alles nicht geschehen in den vergangenen 37 Jahren?
- Das Image der Archive ist nicht positiv.
- Die Öffentlichkeitsarbeit der Archive geschieht nicht effizient.
- Die Historische Bildungsarbeit ist kein selbstverständlicher Bestandteil des archivarischen Tätigkeitsfeldes.
- Es gibt keine Archivwissenschaft und keine Archivdidaktik.
- Das Berufsbild des Archivars ist vertikal, nicht horizontal differenziert.
- Es gibt zu wenig Verständnis von und für Archivmanagement.
Ich weiss, die Liste ist schroff und undifferenziert. Sie wird den zahlreichen konstruktiven Initiativen und Ansätzen aus all diesen Manko-Bereichen nicht gerecht. Ich werde jetzt dennoch nicht jene Literatur zitieren, die mich im Detail widerlegen könnte und die uns glauben machen könnte, dass wir uns – nennen wir es ruhig archivpolitisch – auf dem richtigen Wege befinden. Denn zum einen ließe sich die Liste noch wesentlich verlängern, und zum anderen hat ein wirklicher Bewusstseinswandel für ein modernes Verständnis von den Aufgaben des Archivs unter den Prämissen der Historischen Bildungsarbeit und Öffentlichkeitsarbeit in der Breite noch nicht stattgefunden. Mentalitäten ändern sich bekanntlich am schwerfälligsten.
Aber woran liegt es letztlich, dass all die Ansätze, die wir in den verschiedenen Disziplinen des Archivwesens zur Reform desselben sowie zur Reform der Ausbildung der Zunft vorgenommen haben, nicht (oder noch nicht) greifen? Sicherlich hat es mit dem heterogenen und fachgruppenverteilten Archivwesen in Deutschland zu tun. Was eine Chance für dezentrale Lösungsmodelle und fachlich eigenständige Wege sein könnte, stellt sich häufig genug als Wettbewerbssituation unter eitlen Konkurrenten dar. Die Reform vieler Landesarchivdirektionen erweckt den Anschein, als müsse nun in jedem Bundesland das Rad der archivischen Aufgabenverteilung, Rollenzuschreibung und Selbstdarstellung noch einmal neu erfunden werden. Eigeninteressen dominieren auch die Lobbyarbeit – sofern es eine solche überhaupt gibt. Der Berufsfachverband, der letztlich nur ein Spiegelbild der archivischen Wirklichkeit sein kann, ist bereits mit zunftinternen Moderationsaufgaben gut ausgelastet. Es reichen die ehrenamtlichen Tätigkeiten jedoch nicht mehr aus, um auch auf der politischen bzw. kulturpolitischen Ebene als Interessenvertretung oder gar als „Pressure Group“ wahrgenommen zu werden. Wir können aber nicht ständig von den Archiven als dem „Gedächtnis der Gesellschaft“ und als „unseren Schatzkammern“ schwadronieren, wenn wir uns letztlich nicht auch wie Entscheider verhalten und unsere Rolle annehmen, aktiv beanspruchen und kompetent wahrnehmen! Dass wir Archivarinnen und Archivare tagtäglich an nicht unerheblicher Stelle verantwortlich sind für die Gestaltung unserer Zukunft, das müssen wir auch so kommunizieren – nach innen und nach außen. Wir ermöglichen ja nicht nur den zeitnahen Zugriff auf den Fundus unseres gesellschaftlichen Orientierungswissens, wir machen ja auch unsere Behörden und Unternehmen handlungsfähig, sorgen für Rechtssicherheit, bilden unsere Kinder mit aus und ermöglichen jeder Generation das eingeforderte und notwendige „lebenslange Lernen“. Daher muss mit unserer Aufgabenwahrnehmung auch die Außenwahrnehmung unserer Zunft und unserer Einrichtungen auf einem authentischem Niveau deckungsgleich sein.
Neben der Lobbyarbeit als Teil der indirekten Öffentlichkeitsarbeit gilt es ebenso die direkte Öffentlichkeitsarbeit zu verbessern und zu professionalisieren. Kommunikation mit der Öffentlichkeit muss zielgruppenbezogen und wechselseitig erfolgen. Fraglich ist, wieso das eigentlich den Archivpädagogen bzw. den Archivarinnen und Archivaren überlassen sein muss, die auf dem Gebiet der Historischen Bildungsarbeit tätig sind? Öffentlichkeitsarbeit oder neudeutsch: Public Relations ist ein eigenes Berufsfeld, ein Marketinginstrument, für das man spezifische Kenntnisse und nicht nur Talent benötigt. Wenn wir vom „Lobbying“ oder auch vom „Issue Management“ reden, mit dem wir unsere Themen und Ideen in den öffentlichen Meinungsbildungsprozess einbringen, wenn wir an die interne Kommunikation mit den Archiv-, Behörden- und Unternehmensmitarbeitern denken, wenn wir das Sponsoring und die Pressearbeit (als die Klassikerin der Öffentlichkeitsarbeit) ordentlich betreiben wollen, dann muss auch dies nach den Regeln der Kunst geschehen. Wir haben ja bereits häufiger die alte PR-Weisheit „Tue Gutes und rede darüber“ in den archivischen Bereich übertragen gesehen. Es muss aber mehr noch darum gehen, auch zu wissen, wie man darüber gekonnt zu reden hat. Öffentlichkeitsarbeit wird ja zwar kaum mehr mit zeitlich und räumlich begrenzter Werbung verwechselt, aber dennoch legen die Archive und die sie tragenden Behörden und Einrichtungen häufig nicht genug Engagement in den Aufbau langfristiger und vertrauensvoller Beziehungen zu den Medien. Wichtig ist ein ständiger Dialog mit den Zielgruppen, also mit der relevanten Öffentlichkeit (das wirkt dann auch in die breite Öffentlichkeit). Zwar genießen Archive und deren Mitarbeiter aufgrund der Gediegenheit ihres Tuns sowie aufgrund ihres alltäglichen Umgangs mit Texten einen Vertrauensvorschuss in Redaktionen, doch landen beispielsweise bei einer Tageszeitung täglich mehrere hundert Pressemitteilungen und Veranstaltungshinweise, so dass wir Archivarinnen und Archivare bereits wie Journalisten denken (zumindest an die Journalisten denken) sollten, wenn es um das Herausfiltern von Informationen und um die Übernahme in den redaktionellen Teil einer Zeitung geht. Wenn Öffentlichkeitsarbeit hingegen punktuell betrieben wird oder von unterschiedlich eingeweihten Ansprechpartnern, wenn die Qualität der eigenen Meldungen spürbar variiert, wenn die Aktualität, die Originalität, die Prominenz oder die Folgeschwere des Ereignisses nicht herausgestellt worden ist, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir zwar Gutes tun, dies aber nicht vernommen wird. Wir bringen uns regelmäßig um die Früchte unserer Arbeit. Treten wir also unseren Öffentlichkeitsreferenten, Pressesprechern oder persönlichen Referenten des Bürgermeisters auf die Füße, damit sie mit uns – und zwar in Abstimmung mit den jeweils fachlich kompetenten oder sachlich zuständigen Personen aus dem Archiv – die richtigen PR-Maßnahmen in die Wege leiten.Wenn PR professionell erfolgt, wenn archivarische Leistungen und archivische Dienstleistungen den Zielgruppen kompetente und erwünschte Lösungen präsentieren, dann birgt das natürlich auch die Chance zur Beeinflussung des „Images“ eines Archivs, des Archivträgers und auch des Archivwesens im Allgemeinen (das wir vor Ort repräsentieren). Der Aufbau eines positiven Images ist das Ziel von Öffentlichkeitsarbeit. Ein gutes Image verkauft Dienstleistungen (und wenn wir unsere Tätigkeiten schon als Dienstleistungen interpretieren, dann müssen wir eben auch die Vorstellung von Marktsituationen akzeptieren, wo wir im Wettbewerb mit Mitbewerbern stehen). Ein gutes Image baut aber nicht nur verfestigte Vorurteile ab und macht Archive nicht nur attraktiv für Nutzer („Kunden“ müssen wir sie dann ja konsequenterweise nennen), ein gutes Image motiviert auch die Mitarbeiter und sorgt für die Gewinnung von qualifizierten Nachwuchskräften. Dies halte ich für sehr entscheidende Faktoren für die Akzeptanz unserer Tätigkeit und die Existenz unserer Einrichtungen.
Dabei muss uns sehr bewusst sein (und ich habe das schon en passant einfließen lassen): Archivmitarbeiter sind eben nicht nur Repräsentanten des Archivs, sondern durch das mehr oder weniger hohe Benutzeraufkommen auch Repräsentanten ihrer Archivträger. Die Beziehung zu den eigenen Behörden, Verwaltungen und Unternehmensabteilungen erscheint mir aber vielfach als immer noch dringend verbesserungsfähig. Marketingkonzepte der Archivträger müssen das Archiv, das auf den Feldern der Öffentlichkeitsarbeit und Historischen Bildungsarbeit wirkt, zwingend mit einschließen. Das darf von uns gefordert werden und das müssen wir auch einfordern! Schließlich repräsentiert jedes Archiv auch das Archivwesen als Ganzes. Dies müssen wir uns in unserem Tun ebenfalls stets vor Augen führen! Eine Konsequenz daraus muss eine Verbesserung der zwischenarchivischen Kooperation sein sowie die Stärkung der archivischen Solidarität. Die Kommunikationsfähigkeit zwischen Archiven ist immer noch beschränkt, das gilt aber nicht nur für die „Sender“; auch potenzielle „Empfänger“ stellen sich häufig taub, weil sie meinen, ihnen könne ohnehin nicht geholfen werden. Gerade kleine Archive, Ein-Personen-Archive, die haupt-, neben- oder auch ehrenamtlich geführt werden, haben aber ein vitales Interesse an fachlichem Austausch, an Beratung und an Unterstützung bei jenen Aufgaben, die sie allein häufig nicht stemmen können. Die archivische Solidarität muss in diesem Punkte auch dazu verhelfen, dass solche Archive auch innerhalb ihrer eigenen Verwaltungen eine Rückenstärkung erfahren.
Das hier kurz Angeführte sind nur einige Zielrichtungen und Vorgehensweisen archivischer Öffentlichkeitsarbeit. Inhaltlich haben wir dabei ein überaus großes Pfund, mit dem wir wuchern können: das uns anvertraute authentische Material. Wir besitzen eine Monopolistenstellung, die wir marktwirtschaftlich viel zu wenig ausnutzen. Dabei geht es mir nicht um finanziellen Gewinn (ich halte Archive als Bildungseinrichtungen hingegen notwendigerweise und naturgegeben für investive Betriebseinheiten), sondern es geht mir vor dem Hintergrund des Gesagten darum, die zentrale Funktion der Archive für die Archivträger, für den Sprengel und für die Gesellschaft angemessen herauszustellen. Neben dem Argumentieren mit dem „Original“ müssen wir uns auch des Aspektes der „Transparenz“ noch stärker bewusst werden. Im Kontext von Open Access und der wirklichen Umsetzung von Informationsfreiheitsgesetzen sind die Archive „demokratische Lernorte“ in historischen und gegenwärtigen Bezügen. Wir müssen dabei auf unsere Rolle als Querschnittseinrichtung pochen, gehören konkret besser zum Hauptamt und nicht als Unterabteilung zu Kultur und Sport etc.. Wir verfügen über die entsprechende Kompetenz oder sind zumindest willens uns kontinuierlich fachlich weiterzuentwickeln. Lassen Sie sich als Archiv also weder negativ abstempeln noch – nur als Beispiel genannt – auf den Internetpräsenzen Ihrer Behörden, Kommunen und Unternehmen derart unauffindbar ablegen, als würde man sich Ihrer schämen! Archive sind von zentraler Bedeutung, und Öffentlichkeitsarbeit ist für Archive und ihre Träger von zentraler Bedeutung.
Ich komme damit zu einem anderen Punkt, der mir sehr am Herzen liegt: den Kern- und Randbereichen archivischer Tätigkeit. Mein Plädoyer lautet: Unterlassen wir doch bitte die selbstzerstörerische Trennung von ganz selbstverständlich zusammenhängenden Aufgaben! Dass sich archivische Aufgaben (wie Bewertung, Verzeichnung, Auswertung usw.) unterscheiden lassen und dass sie als Arbeitsschritte aufeinander folgen, darf weder als Legitimation für eine Hierarchisierung der verschiedenen Aufgaben dienen noch zu ihrer Scheidung in Kern und Schale führen. Es ist schlichtweg ein traditionelles Missverständnis vom Archivarsberufs, die Schriftgutfixierung der Benutzerorientierung vorzuziehen (oder vorzuschieben). Volker Schockenhoff hat ja schon vor Jahren auch für Deutschland die unumgängliche Transformation unserer „Papierarchive“ zu „Menschenarchiven“ angemahnt. Wären Archive allein zur Aktenerhaltung und Aufbewahrung da, dann übergingen wir nicht nur fahrlässig das Informationspotenzial und den Bildungsauftrag der Archive, dann führten wir letztlich auch den wissenschaftlichen Anspruch unseres Berufes ad absurdum. Wenn wir aber einerseits das Wort von den „Archivwissenschaften“ im Munde führen (ich bin unsicher, ob es solche gibt), dann müssen wir auf der anderen Seite auch den wissenschaftlicher Archivar des höheren Dienstes zu wissenschaftlicher Erkenntnisleistung, Theoriebildung und Grundlagenforschung herausfordern, weil ansonsten nicht erklärlich wäre, wieso wir unser immer noch recht undurchlässiges berufliches Kastensystem aufrechterhalten. Das archivarische „Handwerk“ erlernen schließlich auch die Diplom-Archivare und sie beweisen als „Universalisten“ und Einzelkämpfer in der Berufspraxis häufig genug, dass sie die breite Aufgabenpalette ihres zeitgemäß verstandenen Berufes annehmen und ausfüllen können. Um es aber auch deutlich zu sagen: So wenig wie ein Historiker trotz Talent und Begeisterung für eine archivische Tätigkeit automatisch zum Archivar mutiert, so wenig sind auch Diplom-Archivare allein durch ihren täglichen Umgang mit historischen Quellen Historiker. Und Historiker und Archivare sind auch nicht automatisch Pädagogen oder PR-Fachleute – und jeweils umgekehrt. Der eine ist aber auch nicht des anderen Erfüllungsgehilfe. Wir sollten insofern, soweit die personellen Voraussetzungen gegeben sind, in den Archiven stärker teamorientiert als laufbahnbezogen denken und arbeiten. Wir müssen die berufliche Qualifikation den Anforderungen und den Ansprüchen, die unsere „Häuser der Geschichte“ stellen, anpassen und uns viel stärker nach den Kompetenzen als nach den Zuständigkeiten richten. Und wir müssen tatsächlich auch über „Tellerränder“ zu schauen lernen, so wie zum Beispiel bei der Überlieferungsbildung, wo ja seit einiger Zeit ein stärkerer Dialog mit der historischen Forschung gefordert wird.
Die Angst, das schützende Kerngehäuse unserer Institutionen verlassen zu müssen, um sich mit vermeintlichen Randbereichen zu beschäftigen, ist möglicherweise auch einfach nur Ausdruck von Hilflosigkeit (böse kann man auch behaupten: und von persönlicher Disposition, denn wir müssen uns doch kritisch fragen lassen, ob wir uns beruflich nicht doch bewusst für den „Elfenbeinkeller“ entschieden haben, von dem wir dieselben stereotypen Vorstellungen von Staubnähe und Lebensferne hatten, die wir heute um unserer Existenz willen bekämpfen müssen). Natürlich ist es schwierig, das, was weder das Berufsbild noch die Berufsausbildung vermitteln, fachlich angemessen zu kompensieren. Es zeugt sogar von einer guten Selbsteinschätzung, wenn man seine Defizite hier benennen kann und mag. Aber wir dürfen uns dem Wandel des Berufsbildes nicht verschließen. Es ist keine Geheimwissenschaft, was man im apostrophierten Randbereich archivischer Aufgaben leisten muss, und es wird dadurch – entgegen allen prominenten Einsprüchen – auch nicht das Zeitbudget für die sog. Kernaufgaben beraubt. Wenn wir die Argumente der knapper werdenden Mittel, der Verwaltungsreform und des Aufgabenabbaus leichtfertig zum Schutz unserer lieben Kernaufgaben selbst aufgreifen und anführen, dann berauben wir uns hingegen unserer eigenen Grundlagen. Denn wer unserer Geldgeber, unserer Sponsoren und unserer Kunden wird sich im Ernstfalle darauf einlassen, mit uns in unserer selbstgeprägten Währung „verzeichnete Laufmeter“ zu verhandeln? – Wir müssen in unseren herkömmlichen Kernaufgaben einem gewissen Primat der Nutzerorientierung huldigen, was wir aber nur können, wenn wir durch unsere Öffentlichkeitsarbeit und unsere Bildungsarbeit in einem kontinuierlichen Kommunikationszusammenhang mit den Adressaten stehen.
Für mich münden die Herausforderungen von Öffentlichkeitsarbeit und Historischer Bildungsarbeit, die ich – wie dargelegt – als elementare archivarische Tätigkeitsfelder verstanden wissen möchte, die ebenso viel Knowhow, Ausdauer und strategische Planung bedürfen wie die anderen Fachaufgaben, notwendigerweise ein in ein Gesamtkonzept von Archivmanagement. Über ein solches strategisches Management kann man sich auch als Non-Profit-Einrichtung durchaus bei den herkömmlichen Managementkonzepten der Betriebswirtschaftslehre und der Unternehmen bedienen. Und Sie werden schnell feststellen, dass derartige Adaptionen mit hohem Wiedererkennungswert mittlerweile in vielen Branchen vorgenommen werden, sei es im Stadtmarketing, im Tourismusmanagement oder in anderen Dienstleistungsbereichen. Diese Instrumente für strategisches Management, wie Stärken-Schwächen-Analyse, Potenzialanalyse, Marketing, Leitbildentwicklung, Qualitätsmanagement und Controlling, basieren in Etlichem auf dem, was ich auch für die Öffentlichkeitsarbeit und Historische Bildungsarbeit als grundlegend angesprochen habe, nämlich die Kundenorientierung, die Festlegung realistischer Ziele, flache innerbetriebliche Hierarchien, Qualität als Maßstab sowie kontinuierliche Binnen- und Außenkommunikation. – Das ist übrigens erlernbar, das ist leistbar und das macht sogar Spaß!
Ich möchte aber abschließend auch noch einmal zu denjenigen Stimmen Stellung beziehen, die meinen könnten und meinen werden, mit der ja nicht allein von mir vertretenen Auffassung von Öffentlichkeitsarbeit, Historischer Bildungsarbeit und Archivmarketing würden wir nicht nur unser „Proprium“ verlassen, sondern uns auch unnötigerweise in eine Konkurrenzsituation mit anderen Kultureinrichtungen und sogar Eventveranstaltern begeben, mit der wir in professioneller Hinsicht überfordert sind. Sofern wir unsere Ziele vernünftig planen, sofern wir die Wünsche unserer Zielgruppen in Erfahrung bringen und sofern wir unsere Schwächen und Stärken genau kennen, haben wir als gesellschaftlicher „Lernort“ gar keine Konkurrenz zu fürchten, denn unsere Produkte sind einzigartig und die Qualität unserer Arbeit ist über jeden fachlichen Zweifel erhaben.
Ich sehe natürlich auch, dass wir möglicherweise gar nicht mehr in einer Dienstleistungsgesellschaft leben (just in dem Moment, wo wir als Archive darin angekommen sind), denn die Dienstleistungsangebote sind heutzutage derart lückenlos ausgereift, dass wir uns wie in einem ,betreuten Leben mit Vollpflegestufe‘ fühlen dürfen. So leben wir möglicherweise im Zeitalter der „Erlebnisgesellschaft“, in der Glückssuche und Genuss als oberste Lebensziele gelten. Aber dass man den Besuch im Archiv als Genuss und zudem nicht nur als Suche, sondern sogar als das Finden von Glück empfinden darf, scheint doch wohl fraglos der Fall zu sein! Und wo das noch nicht der Fall ist, da können vielleicht die gegebenen Anregungen ein wenig weiterhelfen …
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